Das Goldfisch-Dilemma

Jeden Morgen komme ich auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn-Station am Hauptbahnhof an einem dieser großen Flatscreens vorbei, die News des Tages, Wetterbericht, Werbung und Kinotrailer zeigen. Normalerweise gucke ich da nicht groß drauf, aber dieses Mal blieb ich ‚darauf hängen‘ und zwar bei einer Rätselfrage, wo die Antwort nach ein paar Sekunden von selbst eingeblendet wird. Die Frage lautete folgendermaßen:

Wie lange reicht das Gedächtnis eines Goldfisches zurück?

Bevor ich Euch die Antwort verrate, möchte ich ganz kurz über den Sinn bzw. Unsinn einer solchen Frage philosophieren: Da sitzt man oder frau früh am morgen in einem fantagelben Plastikschalensitz (jedenfalls in unserem Hbf), wartet mit dutzenden anderen Fahrgästen auf die Bahn, pustet noch schlaftrunken in seinen Cappuccino to go, macht sich vielleicht im Kopf die erste To-do-Liste für den Tag zurecht – und wird plötzlich mit dieser Frage konfrontiert! Für die stolzen Goldfischbesitzer und Aquaphilen unter uns mag das ja ganz interessant sein – aber für den großen Rest doch wohl eher nicht. Oder?

Nun aber zur Antwort: 3 Sekunden. Und noch einmal ausgeschrieben und mit ein paar Ausrufezeichen garniert: Drei Sekunden!!!

Das heißt, ein Goldfisch kann nur bis drei zählen (auf englisch und hier sehr gut passend: one mississippi, two mississippi, three mississippi) und dann wird die Tafel seines Gedächtnisses komplett abgewischt und es geht von vorne los. Mit anderen Worten: In einem Glas von einer Seite zur anderen schwimmend, würde das Gehirn eines Goldfisches bei jeder Wende/Kehre wieder und wieder und wieder die Reset-Taste drücken. Das heißt, wenn man ein glückliches Leben mit Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen verbindet, wäre ein Goldfisch ziemlich arm dran. Dazu verflucht, alle drei Sekunden alles zu vergessen, gibt es für ihn weder Erinnerungen noch Erfahrungen noch Gefühle. Beziehungsweise, wenn es sie gibt, dann flackern sie nur für Sekundenbruchteile auf, nur um sofort wieder in Vergessenheit zu geraten. Auf der anderen Seite: Ärger, Stress und Depressionen sind genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen sind.

Man stelle sich einmal vor, wie es um die Menschheit bestellt wäre, wenn unser Gedächtnis nur drei Sekunden zurück reichen würde. Ich würde mich ständig fragen, wer diese Personen in meiner Wohnung sind, die da mit mir am Tisch sitzen. Natürlich würde ich mich auch selber ständig fragen, wie zum Teufel ich in diese Wohnung gekommen bin. Und beim Blick in den Spiegel würde ich mich alle drei Sekunden fragen, wer mich da so unverschämt anguckt. Auf halber Strecke zum Kühlschrank würde ich schon vergessen haben, dass er in der Küche steht. Jede Menge Erfindungen wären wahrscheinlich niemals gemacht worden, weil drei Sekunden eine so verflucht kurze Zeit ist, um einen guten Gedanken überhaupt zu Ende zu denken.

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