Fluch und Segen der Komfortzone

Ich habe schon viel über die Komfortzone gelesen. Kein aktueller Ratgeber, der nicht ausführlich über das Thema spricht und das „Verlassen der Komfortzone“ predigt. Es ist aber eine ganz andere Sache, wenn man selbst einmal tatsächlich aus seinem Trott gerissen wird bzw. mit einem Fußtritt aus der ach so gemütlichen Komfortzone herauskatapultiert wird. Bei mir war es eine berufliche Veränderung, die mir schlagartig die Wirkungsweise der Komfortzone vor Augen geführt hat.

Ich habe mich jahrelang ausschließlich mit Texten und Literatur beschäftigt und habe um alles, was mit Zahlen und Rechnungswesen zu tun hat, einen weiten Bogen gemacht (das gilt auch für die Steuererklärung). Nun habe ich in meinem neuen Job in der Kreativbranche nicht nur Texter-Aufgaben, sondern bin zusätzlich auch ins Projektmanagement eingestiegen, wozu auch gehört, Rechnungen zu schreiben und Preis-Angebote für Kunden zu erstellen. Als ich vor meiner ersten Rechnung saß, ist mir regelrecht schlecht geworden, ich habe geschwitzt wie blöde und einfachste Additionsaufgaben (die ich in der Schule mit links im Kopf ausgerechnet hätte) habe ich zigmal mit dem Taschenrechner kontrolliert – nur um sicherzugehen, auch ja keinen Fehler gemacht zu haben. Wegen einfacher formaler Fehler wie einem falschen Zeilenumbruch (der mit einem Tastenklick zu beheben ist) habe ich mir schwerste Vorwürfe gemacht.

Außerhalb der Komfortzone wird die Luft plötzlich dünn

In der Mittagspause habe ich mich wie ein in die Enge getriebenes Tier gefühlt, dass nur noch die Wahl zwischen Angriff und Flucht hat. Tatsächlich wollte ich den Job am liebsten an den Nagel hängen und mich schnellstmöglich wieder zurück in die – richtig – ach so gemütliche Komfortzone begeben. Erst als ich eine meiner bewährten Entspannungsübungen (Inneres Lächeln + Zwerchfellatmung) gemacht und die ganze Situation aus der Vogelperspektive betrachtet habe, ist mir schlagartig klar geworden: Du befindest dich gerade außerhalb deiner persönlichen Komfortzone! Alles, was dir hier begegnet, ist Neuland für dich – und Neuland kann nicht nur neugierig stimmen, sondern auch sehr sehr viel Furcht einflößen. So viel Furcht, dass man all die Schätze, die sich außerhalb der Komfortzone befinden und nur darauf warten, ausgegraben zu werden, einfach im Boden liegen lässt, nur um schleunigst wieder ‚drinnen in Sicherheit‘ zu sein – da, wo es zwar keine Schätze gibt, aber alles nach den altbekannten Regeln und Normen funktioniert und darum auch so gut wie niemals Überraschungen gibt.

Nicht ins Schneckenhaus zurückkriechen, sondern den Berg weiter erklimmen

Ich weiß, dass eine einfache Rechnung vielleicht nicht das spektakulärste Beispiel ist, um die Komfortzone zu illustrieren, aber mir hat diese Extremsituation (und für mich war sie extrem) in dieser Hinsicht die Augen geöffnet. Ich habe mir ruhig, aber entschlossen gesagt, dass ich nicht in mein Schneckenhaus zurückkriechen werde, sondern den Berg allen Hindernissen zum Trotz weiter erklimmen werde. Und wer hätte es gedacht – am Nachmittag war die allererste Rechnung meines Lebens irgendwann geschrieben – und alles ist gut gegangen, niemand ist über mich hergefallen und hat mich fertig gemacht.

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Habt Ihr vielleicht auch schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder vielleicht ganz andere? Ich freue mich darauf, von Euch zu hören …

Gibt es ein Zuviel an Achtsamkeit?

In Robert Pfallers wunderbarem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ gibt es relativ weit vorne eine Passage, die mich nachdenklich gestimmt hat:

„Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos.“ (Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2012, S. 26f.)

Auf mein Thema bezogen, habe ich mich nun gefragt, ob es dementsprechend nicht auch eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit geben kann: An allen Ecken und Enden wird einem ja gerade von allen möglichen Experten gepredigt, dass Achtsamkeit (und in jüngster Zeit auch Kreativität) der heilige Gral zur Rettung der Gesellschaft (wenn nicht der Welt im Ganzen) sei. Aber was, wenn man es mit den täglichen Meditationsübungen, den Yoga-Einheiten, dem In-den-Rücken-Atmen zu weit treibt? Wenn man vor lauter „Oms“ kein Auge mehr hat für die hilfsbedürftigen Menschen auf der Straße? Wenn man vor lauter Verzückung nicht mitbekommt, dass ein Schwerbehinderter ganz gerne einen Platz in der U-Bahn bekäme? Wenn man vor lauter Erleuchtung vergisst, dass die Dunkelheit in all ihren finsteren Schattierungen eben auch ein integraler Teil unserer Existenz ist? Ich denke, genau dann ist eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit erreicht, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie ursprünglich als Ziel hatte: Acht-samkeit verwandelt sich dergestalt in grobe Unachtsamkeit, die sich selbst freilich auf dem Gipfel der Achtsamkeit wähnt.

Mein Tipp: So gut und wichtig Stille und Meditation für das tägliche Achtsamkeitstraining auch sein mögen, Acht-samkeit beginnt hier und jetzt! Und sie bezieht sich nicht nur auf mich und meinen persönlichen Fortschritt, sondern vor allem darauf, am Leben aktiv teilzunehmen und ein lebendiger Teil des Ganzen zu sein – und dazu gehört es eben auch, Hilfsbedürftigen und Kranken beizustehen – und Menschen in der U-Bahn freundlich seinen Platz anzubieten.