„Bäh! Bäh! Bäh!“ Achtsamkeitstraining für Fortgeschrittene (mit Kindern)

Hach, wenn das mit der Achtsamkeit doch alles so einfach wäre, wie mir das unzählige wohlmeinende Ratgeber zum Thema weiß machen wollen. Einfach eine Stunde pro Tag für eine Sitzmeditation reservieren. Einfach das tägliche Teetrinken in eine japanische Zeremonie verwandeln und „bewusst“ genießen, ohne sich dabei von etwas anderem aus der Ruhe bringen zu lassen. Einfach früh morgens in der Natur joggen gehen, die Hand beim Laufen durch ein paar Ähren am Wegesrand streichen lassen und dabei Energie für den Tag tanken. Einfach, einfach einfach …

Aber was, wenn für „einfach“ im Augenblick einfach kein Fach in der täglichen Terminschublade frei ist? So ist es zum Beispiel gerade bei mir. Als Vater von zwei kleinen (zauberhaften) Mädchen (3 Monate und 22 Monate), als Vollzeitangestellter in der Kreativbranche (in der gerne einmal die eine oder andere Überstunde anfällt), als Pendler (1 Std. hin – 1 Std. zurück) – wo soll ich da eine eine ruhige Minute hernehmen, in der ich das machen kann, was die gut gemeinten Ratgeber mir empfehlen: nämlich sich bewusste Auszeiten vom Routine-Alltag zu nehmen?

Geschrei, Gespucke und Windel-voll-Gemache

Wenn ich abends nach Hause komme, wünscht sich meine ältere Tochter, dass ich mit ihr herumtobe und sie ins Bett bringe. Meine Frau drückt mir von der anderen Seite unsere Jüngste in den Arm, damit ich sie wickeln gehe. Manchmal gibt es Geschrei am laufenden Band. Und manchmal auch eine Kombination aus Geschrei, Gespucke, Windel-voll-Gemache in Dolby Surround-Sound und Endlosschlaufe. „Bäh! Bäh! Bäh!“, geht es dann stundenlang – bis die Kinder endlich vor Erschöpfung eingeschlafen sind und die Eltern nur noch wie ein paar Zombies aus einem billigen Horrorfilm in Richtung Bett wanken und sich völlig fertig mit der Welt auf die Matratze fallen lassen. So sehr ich mich auch zusammenreißen will, um joggen zu gehen, um zu meditieren, um ein schönes Buch zu lesen – es geht im Augenblick einfach nicht.

Und wo bleibt hier bitte schön die Achtsamkeit? Ganz einfach, aber auch ganz schön schwer: Wahre Achtsamkeit, so wie ich sie begreife, spielt sich nicht nur auf der Yoga-Matte ab. Sie braucht weder einen japanischen Steingarten (so wunderschön diese auch sind) noch einen Ort der Ruhe und Gelassenheit, wo einzig ein leises Windspiel für eine dezente Begleitmusik sorgt.

Hier und jetzt beginnt die Achtsamkeit

Nein, wahre Achtsamkeit beginnt immer im hier und im jetzt. Du hältst ein schreiendes Baby in den Armen, das dich gerade mal wieder von Kopf bis Fuß eingemilcht hat? Genau das ist der Moment, um deine Achtsamkeit zu schulen. Dein Kind will nicht einschlafen und quengelt dir die Ohren voll, dass du glaubst, gleich den Verstand zu verlieren? Genau das ist der Moment, um deine Achtsamkeit zu trainieren. Du sitzt in einer übervollen S-Bahn mit nervigen Schulkindern, die sich dreckige Witze erzählen und anstößige Bemerkungen machen? Genau das ist der Moment, um deine Achtsamkeit zu entfalten – anstatt sich Kopfhörer aufzusetzen, den E-Book-Reader vor die Nase zu halten und sich schon früh morgens vom Rest der Welt auszuklinken, einfach mal versuchen, mit allen Sinnen da zu sein. Es geht darum, am Leben (das eben nicht nur aus wohlklingenden Kalendersprüchen, sondern eben auch und nicht zu knapp aus dreckigen Witzen besteht) teilzuhaben und sich zu freuen, genau jetzt und hier auf diesem durch das Weltall eiernden Ball namens Erde zu existieren.

Ich weiß, dass das keine leichte Aufgabe ist. Aber ich weiß auch, dass es sich lohnt, den Versuch zu unternehmen, sich täglich etwas mehr auf das einzulassen, was man gerade tut – sei es nun der Abwasch, das Wickeln oder das Pendeln in der vollen S-Bahn.

Gibt es ein Zuviel an Achtsamkeit?

In Robert Pfallers wunderbarem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ gibt es relativ weit vorne eine Passage, die mich nachdenklich gestimmt hat:

„Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos.“ (Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2012, S. 26f.)

Auf mein Thema bezogen, habe ich mich nun gefragt, ob es dementsprechend nicht auch eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit geben kann: An allen Ecken und Enden wird einem ja gerade von allen möglichen Experten gepredigt, dass Achtsamkeit (und in jüngster Zeit auch Kreativität) der heilige Gral zur Rettung der Gesellschaft (wenn nicht der Welt im Ganzen) sei. Aber was, wenn man es mit den täglichen Meditationsübungen, den Yoga-Einheiten, dem In-den-Rücken-Atmen zu weit treibt? Wenn man vor lauter „Oms“ kein Auge mehr hat für die hilfsbedürftigen Menschen auf der Straße? Wenn man vor lauter Verzückung nicht mitbekommt, dass ein Schwerbehinderter ganz gerne einen Platz in der U-Bahn bekäme? Wenn man vor lauter Erleuchtung vergisst, dass die Dunkelheit in all ihren finsteren Schattierungen eben auch ein integraler Teil unserer Existenz ist? Ich denke, genau dann ist eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit erreicht, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie ursprünglich als Ziel hatte: Acht-samkeit verwandelt sich dergestalt in grobe Unachtsamkeit, die sich selbst freilich auf dem Gipfel der Achtsamkeit wähnt.

Mein Tipp: So gut und wichtig Stille und Meditation für das tägliche Achtsamkeitstraining auch sein mögen, Acht-samkeit beginnt hier und jetzt! Und sie bezieht sich nicht nur auf mich und meinen persönlichen Fortschritt, sondern vor allem darauf, am Leben aktiv teilzunehmen und ein lebendiger Teil des Ganzen zu sein – und dazu gehört es eben auch, Hilfsbedürftigen und Kranken beizustehen – und Menschen in der U-Bahn freundlich seinen Platz anzubieten.