Gibt es ein Zuviel an Achtsamkeit?

In Robert Pfallers wunderbarem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ gibt es relativ weit vorne eine Passage, die mich nachdenklich gestimmt hat:

„Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos.“ (Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2012, S. 26f.)

Auf mein Thema bezogen, habe ich mich nun gefragt, ob es dementsprechend nicht auch eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit geben kann: An allen Ecken und Enden wird einem ja gerade von allen möglichen Experten gepredigt, dass Achtsamkeit (und in jüngster Zeit auch Kreativität) der heilige Gral zur Rettung der Gesellschaft (wenn nicht der Welt im Ganzen) sei. Aber was, wenn man es mit den täglichen Meditationsübungen, den Yoga-Einheiten, dem In-den-Rücken-Atmen zu weit treibt? Wenn man vor lauter „Oms“ kein Auge mehr hat für die hilfsbedürftigen Menschen auf der Straße? Wenn man vor lauter Verzückung nicht mitbekommt, dass ein Schwerbehinderter ganz gerne einen Platz in der U-Bahn bekäme? Wenn man vor lauter Erleuchtung vergisst, dass die Dunkelheit in all ihren finsteren Schattierungen eben auch ein integraler Teil unserer Existenz ist? Ich denke, genau dann ist eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit erreicht, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie ursprünglich als Ziel hatte: Acht-samkeit verwandelt sich dergestalt in grobe Unachtsamkeit, die sich selbst freilich auf dem Gipfel der Achtsamkeit wähnt.

Mein Tipp: So gut und wichtig Stille und Meditation für das tägliche Achtsamkeitstraining auch sein mögen, Acht-samkeit beginnt hier und jetzt! Und sie bezieht sich nicht nur auf mich und meinen persönlichen Fortschritt, sondern vor allem darauf, am Leben aktiv teilzunehmen und ein lebendiger Teil des Ganzen zu sein – und dazu gehört es eben auch, Hilfsbedürftigen und Kranken beizustehen – und Menschen in der U-Bahn freundlich seinen Platz anzubieten.