Zahnpastalove oder Christoph Niemanns Blick für das gewisse Etwas

Vor Kurzem stand ich früh morgens bei meinem geliebten Kaffeeroller in der Bonner Altstadt, um meinen Morgen-Espresso zu trinken, ohne den meine Gehirnzellen auf der Arbeit unmöglich in Gang kommen. Dabei werfe ich immer gerne einen Blick in die dort liegenden Zeitungen und bin auf einen tollen Artikel in der SZ zu einer aktuellen Ausstellung des berühmten Grafikers Christoph Niemann gestoßen.

Zahnpasta und Zahnbürste auf Kamasutra

Besonders angetan hat es mir das Titelbild: Zahnpasta und Zanbürste in einer innigen Umarmung umschlungen. Wie häufig ich mir auch schon in meinem Leben die Zähne geputzt habe – und ich putze sie mindestens 3 mal täglich, weil ich seit meiner Kindheit Karius und Baktus-geschädigt bin (ich hatte sogar eine schreckliche Hörspielkassette davon, mit der meine Mutter mich regelmäßig terrorisiert hat) –,  ich bin einfach niemals auf die Idee gekommen, diese beiden Produkte zu personalisieren, ganz zu schweigen davon, mir sie als Liebespaar vorzustellen. Genau das ist es, was man als kreative Achtsamkeit bezeichnen könnte: Einen Blick für das gewisse Etwas zu entwickeln, so dass man plötzlich in einem Hut eine Schlange sieht, die einen Elefanten verspeist hat – oder eben Zahnpasta und Zahnbürste auf Kamasutra …

Den tollen Artikel von Andrian Kreye zu Christoph Niemann und der Ausstellung in Wien könnt Ihr Euch hier online durchlesen.

Gibt es ein Zuviel an Achtsamkeit?

In Robert Pfallers wunderbarem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ gibt es relativ weit vorne eine Passage, die mich nachdenklich gestimmt hat:

„Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos.“ (Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2012, S. 26f.)

Auf mein Thema bezogen, habe ich mich nun gefragt, ob es dementsprechend nicht auch eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit geben kann: An allen Ecken und Enden wird einem ja gerade von allen möglichen Experten gepredigt, dass Achtsamkeit (und in jüngster Zeit auch Kreativität) der heilige Gral zur Rettung der Gesellschaft (wenn nicht der Welt im Ganzen) sei. Aber was, wenn man es mit den täglichen Meditationsübungen, den Yoga-Einheiten, dem In-den-Rücken-Atmen zu weit treibt? Wenn man vor lauter „Oms“ kein Auge mehr hat für die hilfsbedürftigen Menschen auf der Straße? Wenn man vor lauter Verzückung nicht mitbekommt, dass ein Schwerbehinderter ganz gerne einen Platz in der U-Bahn bekäme? Wenn man vor lauter Erleuchtung vergisst, dass die Dunkelheit in all ihren finsteren Schattierungen eben auch ein integraler Teil unserer Existenz ist? Ich denke, genau dann ist eine Maßlosigkeit an Achtsamkeit erreicht, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie ursprünglich als Ziel hatte: Acht-samkeit verwandelt sich dergestalt in grobe Unachtsamkeit, die sich selbst freilich auf dem Gipfel der Achtsamkeit wähnt.

Mein Tipp: So gut und wichtig Stille und Meditation für das tägliche Achtsamkeitstraining auch sein mögen, Acht-samkeit beginnt hier und jetzt! Und sie bezieht sich nicht nur auf mich und meinen persönlichen Fortschritt, sondern vor allem darauf, am Leben aktiv teilzunehmen und ein lebendiger Teil des Ganzen zu sein – und dazu gehört es eben auch, Hilfsbedürftigen und Kranken beizustehen – und Menschen in der U-Bahn freundlich seinen Platz anzubieten.